Vor dem Hintergrund rasant steigender Zahlen von Coronainfektionen haben Ärzte und Wissenschaftler für einen Strategiewechsel geworben. Statt Verbote sollte auf Gebote gesetzt werden. Bei der Pandemiebekämpfung sei man auf die Mitarbeit der Bevölkerung angewiesen, sonst liefen die Maßnahmen ins Leere.
In einem Positionspapier, welches am Mittwochvormittag vorgestellt wurde, hat die KBV mit der wissenschaftlichen Expertise der Virologen Professor Hendrik Streeck und Professor Jonas Schmidt-Chanasit Vorschläge entwickelt, wie die Pandemie langfristig bewältigt werden kann.
Im Kern wird in dem Papier für einen stärkeren Schutz der Risikogruppen, die Einhaltung der Hygienemaßnahmen, mehr Eigenverantwortung und ein bundeseinheitliches Ampelsystem plädiert.
Gassen fordert „gesunde Balance“
„Wir nehmen die Pandemie sehr ernst“, stellte KBV-Vorstandschef Dr. Andreas Gassen zu Beginn der Pressekonferenz klar. „Uns geht es um eine realistische medizinische Einschätzung von Chancen und Risiken, denn wir werden das Virus so schnell nicht eliminieren können“, sagt er und fügte hinzu: „Wir können nicht das ganze Land, gar einen Kontinent Wochen und Monate in ein künstliches Koma versetzen“ und damit bleibende Schäden verursachen.
Nötig seien zielgerichtete und für die breite Bevölkerung nachvollziehbare Maßnahmen. „Wir brauchen eine gesunde Balance aus Einschränkungen und wissenschaftlich begründbaren Maßnahmen“, betonte Gassen. Dazu zähle der Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen. Nötig sei zudem eine Abkehr von der umfassenden Einzelnachverfolgung persönlicher Kontakte, die schon jetzt nicht mehr gewährleistet werden könne.
Den „dauerhaften Umgang mit dem Virus“ und damit „ein dauerhaftes anderes Verhalten“, hob auch der KBV-Vorstandsvize Dr. Stephan Hofmeister als notwendig hervor. „Bei den Maßnahmen dürften „die Nebenwirkungen nicht schlimmer sein als die Wirkungen“. Wichtig seien nachhaltige Konzepte. „Dazu wollen wir den Dialog eröffnen.“
Vor „großen Nebenwirkungen“ eines weiteren Lockdowns warnte auch Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Aus seiner Sicht sind die AHA + A + L Regeln (Abstand/Hygiene/Alltagsmaske + App + regelmäßiges Lüften) ausreichend, um die Pandemie durchzustehen. Doch sie müssten auch konsequent umgesetzt werden. Hier sei mehr Aufklärung nötig, gerade in den Zielgruppen, „die nicht so gut deutsch sprechen“.
Wir müssen uns auf einen Marathon vorbereiten
Der Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn, Professor Streeck, machte deutlich, dass es „ein Irrglaube“ sei, dass mit einem Impfstoff das Virus besiegt sei. „Wir müssen uns auf diesen Marathon vorbereiten“, bekräftigte er. Nur auf die Infektionszahlen zu schauen sei zu wenig.
Schutz der Risikogruppen
Alle vier Unterzeichner des Positionspapiers hoben den Schutz der Risikogruppen hervor, denen schwere Krankheitsverläufe drohen, aber diese möglichst nicht zu isolieren. So schlagen sie ein „Schleusen“-Modell für Besucher von Senioren- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern vor, wonach diese nur nach einem negativen Antigen-Schnelltest Zutritt erhalten.
Für die älteren Menschen, die in der Häuslichkeit lebten, müssten Schutzmaßnahmen wie FFP2-Masken und auch in Form von Nachbarschaftshilfe getroffen werden, betonte Streeck.
Mehr Eigenverantwortung
Generell gehe es bei der Pandemiebekämpfung vor allem um Eigenverantwortung. Deshalb setzen die Unterzeichner auf Gebote anstelle von Verboten, auf Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung. Verbote oder Bevormundung hätten eine kurze Halbwertszeit und entsprächen nicht der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Ausdrücklich wird in dem Positionspapier die konsequente Anwendung von Hygienemaßnahmen befürwortet, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Um auch Veranstaltungen wieder stattfinden zu lassen, müssten Hygienekonzepte gefördert werden. Denn bislang wisse man noch nicht, unter welchen Bedingungen kein erhöhtes Infektionsrisiko besteht.
Es sei nicht zielführend Gaststätten, Hotels und Theater zu schließen, in denen die Hygieneregeln eingehalten würden und es keinen Infektionsfall gäbe, sagte Schmidt-Chanasit.
Bundesweit einheitliches Ampelsystem
Darüber hinaus wird in dem Papier ein bundesweit einheitliches Ampelsystem vorgeschlagen. Daran soll sowohl auf Bundes- als auch auf Kreisebene die aktuelle Lage auf einen Blick erkennbar sein. Damit könne die Politik dann klar kommunizieren, wie die Situation aussieht, mit welchen Entwicklungen zu rechnen ist und mit welchen Maßnahmen darauf reagiert werden sollte.
Grundlage dieser Corona-Ampel müssen alle relevanten Kennzahlen wie Infektionszahlen, Anzahl der durchgeführten Tests, stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten bilden.
Positionspapier als Diskussionsgrundlage
Das heute vorgelegte Positionspapier solle die Diskussion anschieben, sagte Gassen und verwies auf die zahlreichen Unterstützer der Positionen. „Wir haben auch keine endgültige Lösung, aber es gibt sicherlich Alternativen zum Lockdown.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten haben sich am Mittwochabend auf weitere drastische Maßnahmen in der Pandemiebekämpfung geeinigt. Danach sollen bereits ab Montag unter anderem Kontakte im privaten und öffentlichen Bereich eingeschränkt sowie die Gastronomie vorübergehend geschlossen werden.
Weitere Infos sowie auch das Positionspapier finden Sie hier:
https://www.kbv.de/html/1150_48918.php
Quelle: KBV Praxisnachrichten, 28.10.2020