Vorschlag der Regierungskommission zur „doppelten Facharztschiene“ entbehrt jeglicher Grundlage: sie existiert schlichtweg nicht. Auch ein „Primärarztsystem“ findet keinen Zuspruch seitens des Berufsverbands der Deutschen Urologie.
Berlin, 23.05.2024 – Der Begriff einer doppelten Facharztschiene ist eine sprachliche Geburt, deren Ausgangspunkt nach Auffassung des Berufsverbands der Deutschen Urologie (BvDU) jeglicher Grundlage entbehrt. Es gibt in Deutschland schlichtweg keine „doppelte Facharztschiene“. Richtig ist, dass die in Deutschland existierenden Wege der ärztlichen Versorgung komplementär sind und sich zu einer Einheit ergänzen. „Ein Vorschlag, der vollkommen an der Realität in der Praxis und der gesetzlichen Grundlage in der ambulanten Versorgung vorbeigeht“, so Dr. Axel Belusa, Präsident des Berufsverbands der Deutschen Urologie. „Es ist erschreckend, dass sich die hochrangig besetzte Regierungskommission eine Äußerung Karl Lauterbachs aus dem Jahr 2007 zu eigen macht, ohne die Gültigkeit dieser Meinung selbst empirisch zu überprüfen.“ Damals ging es letztendlich um die Abschaffung der PKV als gesundheitspolitisches Instrument. „Aus dem Zusammenhang gerissene und unausgegorene Behauptungen werden missbraucht, um unreflektiert das System der wohnortnahen flächendeckenden Versorgung wegzuradieren. Die deutsche Ärzteschaft und die deutsche Bevölkerung darf und muss von Wissenschaftlern der Regierungskommission zumindest eine auf Analysen und Evidenz basierte Arbeit erwarten,“ so Dr. Belusa weiter. „Die Kommission schürt mit ihrem nicht nachvollziehbaren Vorgehen völlig unnütz weiter Fassungslosigkeit in der Vertragsärzteschaft.“
Flächendeckende, ambulante und wohnortnahe medizinische Versorgung ist klar geregelt
Die vertragsärztliche Versorgung ist im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses durch schriftliche Verträge der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Verbänden der Krankenkassen so geregelt, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist. Zur ausreichenden ambulanten Versorgung durch Vertragsärzte gehört, dass diese wohnortnah erfolgen muss und es hierfür sogenannte grundversorgende Ärzte im ambulanten medizinischen Bereich gibt
Unter die Grundversorger werden Hausärzte, wie auch bestimmte Facharztgruppen, subsumiert. Bei Hausärzten wird mitunter auch von „Primärärzten“ gesprochen. Außer Urologinnen und Urologen gelten die Fachärzte folgender Richtungen als grundversorgend: Augenheilkunde, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Haut- und Geschlechtskrankheiten, Kinder- und Jugendmedizin, Neurologie, Orthopädie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Kinder- und Ju-gendpsychiatrie und –psychotherapie. Grundversorgende Ärzte müssen u.a. offene Sprechstunden anbieten. Gerade in der Urologie funktioniert darüber hinaus auch die sektorübergreifende Versorgung hervorragend. Die Urologie ist stark in der Hybrid-DRG vertreten und viele Urologinnen und Urologen sind belegärztlich tätig.
In anderen, z.B. nordeuropäischen, Ländern ist die Versorgung grundsätzlich anders geregelt. Dort besteht ein staatlich organisiertes und finanziertes Gesundheitssystem, in dem Fachärzte in Versorgungszentren (mit ambulanten Strukturen) in der Klinik tätig sind. Es existiert dort keine wohnortnahe ambulante fachärztliche Versorgung – mit all den daraus resultierenden Nachteilen. Patientinnen und Patienten haben keinerlei Wahlmöglichkeiten und müssen zudem sehr weite Fahrwege und Wartezeiten in Kauf nehmen. Der Berufsverband stellt klar, dass nicht einfach Elemente aus einem System herausgenommen und in ein anderes, völlig unterschiedlich aufgestelltes System, übertragen werden können.
Dr. Peter J. Goebell, 1. Vizepräsident des Berufsverbands der Deutschen Urologie, betont: „Es bleibt zu hoffen, dass bald bessere Reformansätze vorgelegt werden. Sonst schlägt die bereits begonnene Vernichtung von Existenzen von ambulanten vertragsärztlichen Praxen mit voller Wucht weiter zu.“
Ebenfalls keine Zustimmung zu einer Einführung eines Primärarztsystems seitens des BvDU
Der Berufsverband stellt sich gegen den Beschluss für ein Primärarztsystem, für das sich der Deutsche Ärztetag in Mainz ausgesprochen hat. Auch das von der KBV lancierte Bonussystem in diesem Zusammenhang ist nach Überzeugung des Berufsverbands nicht sinnvoll.
Der BvDU begrüßt grundsätzlich eine Patientensteuerung. „In Bezug auf ein Primärarztsystem ergibt es jedoch gar keinen Sinn, dass ein Patient zuerst zum Hausarzt geht, wenn er zum Beispiel Hodenschmerzen hat, und der ihm dann sagt, oh, das muss sich ein Urologe anschauen, ich schreibe Ihnen mal eine Überweisung. Der Patient müsste ein zweites Mal einen Arzt aufsuchen (auf Kosten des Gesundheitssystems) – und dann erst wieder einen Termin bekommen. Bis dahin landet er im Zweifelsfall in der Notfallrettung und nimmt dort die Kapazitäten in Anspruch.“, so Dr. Peter Kollenbach, 2. Vizepräsident des BvDU. „Die hausärztlichen Praxen schaffen es kapazitär aktuell bereits kaum, die Primärversorgung ihrer Patientinnen und Patienten zu leisten, wie sollte dies mit einem vollumfänglichen Primärarztsystem funktionieren? Das geht komplett an der augenblicklichen Versorgungsrealität vorbei.“
Nach Auffassung des BvDU ergäbe es stattdessen Sinn, eine Überbeanspruchung des Systems zu verhindern, indem der Mehrfachbesuch bei mehreren Ärzten gleicher Fachrichtung beschränkt würde und zudem der Zugang zu fachspezifischen Notaufnahmen begrenzt wird. Nach Dr. Sulafah El-Khadra, Pressesprecherin des BvDU, „würden dadurch die Überlastungen des Gesundheitssystems jedoch nicht aufgefangen. Einer der haupttragenden Gründe für die Überlastung des Systems liegt in dem unlösbaren Widerspruch zwischen dem unbegrenzten Leistungsversprechen der Politik für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (jede/r, zu jeder Zeit, mit voller Leistung, frei wählbar wo, wie oft, von wem) und den zunehmend begrenzten Ressourcen (Geld für Gesundheitsleistungen, Anzahl von medizinischem Fachpersonal, Arbeitszeit der Ärztinnen und Ärzte, begrenztes Budget). Es ergibt keinen Sinn, die Zahl der Ärzte zu verknappen, wenn immer weniger Ärztinnen und Ärzte aufgrund des demografischen Wandels immer mehr Patientinnen und Patienten behandeln müssen.“
Erreicht werden müsste und könnte eine Entlastung aus Sicht des Berufsverbands der Deutschen Urologie nur auf Grundlage einer konkreten Ermittlung, welcher Patient wie oft welchen Arzt aufsucht oder wie oft Patienten parallel mehrere Fachärzte aufsuchen, um auf dieser Basis eine passende Steuerung von Patienten etablieren zu können. Begleitet werden müsste dies mit Hinweisen in Patienteninformationssystemen, Aufklärungskampagnen sowie in Prävention und Gesundheitserziehung der Bevölkerung und echter „Public Health“.
„Die Regierung muss endlich dafür sorgen, dass die begonnenen grundsätzlich sinnvollen Reformen des Gesundheitssystems und die Digitalisierung – im Rahmen der jahrzehntelangen, hervorragend funktionierenden komplementären Arbeit von Kliniken und vertragsärztlich tätigen Ärzten und medizinischen Fachangestellten – ohne neue unausgegorene Wundertüten-Vorschläge in Umsetzung kommen“, so die Forderung des BvDU.