„In Jahrzehnten ist es nicht gelungen, die Versorgung über die Sektorengrenzen hinweg besser zu organisieren“. Mit diesen deutlichen Worten beschreibt der Vorstandsvorsitzende der BARMER, Prof. Dr. Christoph Straub, die immer noch vorhandenen gravierenden Informationslücken zwischen den Behandlungsbereichen. Besonders gefährdet seien dabei Millionen von Polypharmazie-Patienten. Häufig würden wichtige Informationen zum Patienten, zum Beispiel zur Medikation, dem Krankenhaus gar nicht vorliegen. Aber auch nach Entlassung aus der Klinik würden Patient und weiterbehandelnde Ärzte nicht ausreichend über Therapieänderungen informiert. Das sind zentrale Erkenntnisse aus dem aktuellen Arzneimittelreport der BARMER, der am heutigen Donnerstag (13. August) in Berlin vorgestellt wurde.
Bundeseinheitlicher Medikationsplan häufig nicht vorhanden
Jedes Jahr müssen mehrere Millionen Menschen ins Krankenhaus, die mindestens fünf Arzneimittel zugleich einnehmen. Allein im Jahr 2017 waren bundesweit 2,8 Millionen Personen am Tag ihrer Klinik-Aufnahme Polypharmazie-Patienten. Gerade bei dieser besonders gefährdeten Gruppe kommt es bei der Aufnahme ins und der Entlassung aus dem Krankenhaus häufig zu Informationsdefiziten mit schlimmstenfalls lebensbedrohlichen Folgen aufgrund von Behandlungsfehlern. So hatten nur 29 Prozent der Patienten bei der Klinikaufnahme den bundeseinheitlichen Medikationsplan, der Informationsverluste zwischen Ärzten verhindern soll. 17 Prozent verfügten über gar keine aktuelle Aufstellung ihrer Medikamente. Dies hat eine Umfrage unter rund 2.900 bei der BARMER versicherten Polypharmazie-Patienten über 65 Jahren ergeben. Vorhandene Pläne waren zudem häufig unvollständig. „Es ist unverständlich, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus als millionenfacher Prozess so fehleranfällig ist. Das kann lebensgefährlich sein. Es muss verhindert werden, dass Patienten aufgrund von Informationsdefiziten zu Schaden kommen“, so Straub.
Patienten bekommen Therapiewechsel häufig nicht erklärt
Wie aus dem BARMER-Report weiter hervorgeht, fließen die Informationen zur Arzneimitteltherapie auch während des Klinikaufenthalts nur bruchstückhaft. So gaben über 30 Prozent der von der BARMER Befragten an, dass ihnen die Arzneitherapie vom Arzt nicht erklärt worden sei. Jeder dritte Patient mit geänderter Therapie habe zudem vom Krankenhaus keinen aktualisierten Medikationsplan erhalten. „Eine Arzneitherapie kann nur erfolgreich sein, wenn der Patient sie versteht und mitträgt. Dazu muss er sie entsprechend erklärt bekommen. Informationsdefizite dürfen auch deswegen nicht auftreten, weil die Therapie nach einem Krankenhausaufenthalt häufig noch komplexer wird“, sagte der Autor des Arzneimittelreports, Prof. Dr. Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken. Zudem würden die Medikationsrisiken im Krankenhaus nicht erkennbar geringer. Laut Arzneimittelreport sei die Anzahl der Patienten, die nach der sogenannten PRISCUS-Liste eine nicht altersgerechte Arzneimitteltherapie erhalten, nach der stationären Behandlung höher als zuvor. Weiter habe jeder zehnte Patient nach dem Krankenhausaufenthalt Arzneimittel von einem Arzt verordnet bekommen, bei dem er im halben Jahr zuvor nicht in Behandlung war.
Informationsdefizite von der Klinik hin zum Allgemeinmediziner
Den Reportergebnissen zufolge stockt zudem die Weitergabe von behandlungsrelevanten Daten aus dem stationären in den ambulanten Sektor. Indizien dafür liefert eine Umfrage für den Arzneimittelreport unter 150 Hausärzten. Demnach waren 40 Prozent der befragten Allgemeinmediziner mit den Informationen durch das Krankenhaus unzufrieden oder sehr unzufrieden. So seien nur bei jedem dritten betroffenen Patienten Therapieänderungen begründet worden. Wie die Routinedatenanalyse zeigt, hatten 41 Prozent der Versicherten, also fast 484.000 Personen, nach Entlassung mindestens ein neues Arzneimittel bekommen. „Umfassende Informationen von der Klinik zum weiterbehandelnden Arzt sind unerlässlich. Dies gilt umso mehr, da stationär behandelte Patienten zunehmend älter sowie mehrfach erkrankt sind und polypharmazeutisch behandelt werden. Von einer modernen sektorenübergreifenden Versorgung ist unser Gesundheitswesen meilenweit entfernt“, so Grandt.
Projekt TOP stärkt Patientensicherheit
Ursache der Informationsdefizite sei weniger der einzelne Arzt, als vielmehr der unzureichend organisierte und nicht adäquat digital unterstützte Prozess einer sektorenübergreifenden Behandlung, sagte BARMER-Chef Straub. Entscheidend sei, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, um der Ärzteschaft die Arbeit zu erleichtern und Risiken für Patienten zu minimieren. Daher habe die BARMER mit zahlreichen Partnern das Innovationsfondsprojekt TOP ins Leben gerufen, das im Oktober startet. TOP stehe für „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“ und stelle den behandelnden Ärzten aus Krankenkassendaten alle behandlungsrelevanten Informationen zur Verfügung, sofern der Patient sein Einverständnis gegeben habe. Dazu gehörten Vorerkrankungen und eine Liste aller verordneten Arzneimittel. Zudem arbeiteten Ärzte und Apotheker im Krankenhaus zusammen. Im Krankenhaus werde der Medikationsplan des Patienten vervollständigt oder erstellt, sofern noch nicht vorhanden, und die Therapie erklärt. „TOP ermöglicht zudem einen Informationsaustausch zwischen dem Krankenhaus und den einweisenden Ärztinnen und Ärzten ohne Reibungsverluste. Das Projekt hat das Potenzial, die Risiken sektorenübergreifender Behandlung in der Routineversorgung zu minimieren“, sagte Straub.
Mitschnitt der Online-Pressekonferenz zum BARMER Arzneimittelreport 2020
YouTube-Video von der Pressekonferenz
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pi BARMER, 13.08.2020