Verbindliches Primärarztsystem: Die Hausärzteschaft wird an ihre Grenzen kommen
Der Koalitionsvertrag schlug in der Medizin ein großes Thema an: Im Kollektiv- und Selektivvertrag soll ein „verbindliches Primärarztsystem“ verankert werden. Gleichzeitig wurde den KVen die Verpflichtung auferlegt, Facharzttermine zu garantieren. Die Ärzteschaft und die Organe der Selbstverwaltung wurden offenbar überrascht: Was genau ist ein Primärarztsystem und wer hat der Politik die Idee nahegelegt?
Im deutschen Gesundheitssystem gibt es bisher weder einen Primärarzt noch eine klare Definition des Unterschieds zwischen Hausarzt und Primärarzt. Anzunehmen ist, dass Vertreter des Hausärzteverbandes am wenigsten überrascht waren. Nach Bekanntwerden der Koalitionspläne arbeiteten die Gremien der Selbstverwaltung (KBV, BÄK) und die Verbände (SpiFa und Berufsverbände) getrennt voneinander daran, eine Definition eines Primärarztsystems in ihrem jeweiligen Sinne zu erarbeiten. Der Begriff „fachärztliche Grundversorger“ wird inzwischen nicht mehr verwendet.
Im Zentrum der Debatten stand nicht nur der Wettlauf der Systeme – Kollektiv- und Selektivvertrag – sondern jeder Verband versuchte, die eigenen Partikularinteressen zu formulieren.
Aus Sicht des Berufsverbandes ist die zentrale Frage nicht nur, ob Patienten direkt zu ihrer Urologin oder ihrem Urologen gehen können. Vielmehr steckt in der politischen Agenda nach Überzeugung des BvDU das Ziel eines grundsätzlichen Systemwechsels in der ambulanten medizinischen Versorgung: eine Verlagerung der Schwerpunkte hin zur Allgemeinmedizin bis hin zu einer Einschränkung oder sogar Abschaffung der wohnortnahen, flächendeckenden ambulanten fachärztlichen Versorgung. Aus fachärztlicher Sicht würde dies eine substanzielle Verschlechterung der Qualität der ambulanten Versorgung in Deutschland bedeuten. Bislang existierte eine funktionierende, ausgewogene Arbeitsteilung zwischen Hausärzten, Fachärzten und Kliniken; diese gerät unter dem aktuellen Wandel zunehmend an ihre Grenzen.
Ist ein Hausarzt automatisch ein Primärarzt?
Die Ressourcen der ambulanten Versorgung sind begrenzt. Seit Jahren spitzt sich die Situation zu: Ärztemangel betrifft Stadt und Land gleichermaßen. Die Abschaffung von Studienplätzen rächt sich derzeit. In der aktuellen Lage wird die Hausärzteschaft überrannt von Routinen und gerechtfertigter wie weniger gerechtfertigter Inanspruchnahme durch Patientinnen und Patienten. Bis 2040 werden zwischen 30.000 und 50.000 fehlende Ärzte prognostiziert, und geschätzt 9 % der haus- und fachärztlichen Sitze werden nicht neu besetzt. Den Kolleginnen und Kollegen bleibt oft nichts anderes übrig, als Patienten mit urologisch bedingten Beschwerden sofort an Fachärztinnen und Fachärzte zu überweisen. Hausärzte müssen triagieren und Überweisungen vornehmen.
Es erstaunt die Fachärzteschaft, wenn Vertreter des Hausärzteverbandes öffentlich äußern, ein Großteil der Versorgung werde zukünftig in den Hausarztpraxen stattfinden. Die Hausärzteschaft ist bereits jetzt an der Grenze – wie sollen die hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen diesen Zusatzjob bewältigen? Ein Überweisungsvorbehalt zum Facharzt würde pro Jahr eine Vielzahl zusätzlicher Arztkontakte in den Hausarztpraxen erzeugen und zu einem reinen Überweisungs-Abrechnungsmarathon führen. Die Fachärzteschaft soll mit Termingarantie und Budgetierung die Überweisungen abarbeiten, die möglicherweise ohne vollständige Vorbefunde oder -behandlungen erfolgen.
Kurz und bündig aus Sicht des BvDU:
Die Hausärzteschaft ist derzeit nicht aufgestellt, um gleichzeitig Steuerer und Problemlöser zu sein. Der hausärztliche Lobbyismus überschätzt die eigenen Ressourcen und Möglichkeiten deutlich.
Was bedeutet ein Primärarztsystem für die Versicherten?
Patientinnen und Patienten kennen Begriffe wie Primärarzt, Ersteinschätzungsverfahren, Kollektiv- und Selektivvertrag kaum. Was sie verstehen, sind Schlagworte wie „Primärarzt“ oder „garantierte Facharzttermine“. Die Botschaft lautet: „Es gibt einen, der sich kümmert, und einen, der den Termin geben muss.“ Was Versicherte bisher nicht wissen, sind die Konsequenzen: Es wird zu Sanktionierung, Rationierung und Priorisierung von Leistungen kommen müssen.
Ein reines Umetikettieren der Hausärzte in Primärärzte mit zusätzlichem Geld im ohnehin entbudgetierten Hausarztsystem wird weder den Patienten gerecht, noch werden die von der Politik erhofften Effekte eintreten. Primärärzte müssten bei Übernahme fachärztlicher Leistungen die uneingeschränkte Verantwortung und die daraus resultierenden Konsequenzen tragen. Wollen sie das wirklich?
Forderungen des BvDU als Voraussetzung für ein Primärarztsystem:
- Die Qualität der Versorgung für Erkrankungen, die der Fachärzteschaft zuzuordnen sind, darf sich in einem Primärarztsystem nicht verschlechtern.
- Die Fachärzte müssen die Hoheit über die fachärztlichen Behandlungsfälle behalten.
- Klare Schnittstellen zwischen Primärarzt und Facharzt sowie zurück müssen definiert werden.
- Selektivverträge können nur als Hausarzt-Facharzt-Verträge geschlossen werden; das Modell aus Baden-Württemberg kann hierbei Vorbildwirkung entfalten.
- Die fachärztliche Versorgung ist vollständig zu entbudgetieren.
- Ein Direktzugang zu urologischer Versorgung für definierte Notfälle, Tumorpatienten und Leistungen zur Früherkennung muss garantiert sein.
- Die Steuerung für Versicherte muss verbindlich festgelegt sein.
In der Vorhabenplanung des Ministeriums steht das Primärarztsystem auf dem letzten Platz, flankiert durch das wenig effektive Agieren der Bundesgesundheitsministerin. Der Berufsverband der Deutschen Urologie ist überzeugt, dass das Primärarztsystem trotz dieser wenig hoffnungsvollen Perspektive eine hohe Priorität hat. Nach Äußerungen aus Regierungskreisen und dem Gesundheitsausschuss gilt es auch auf parlamentarischer Seite in der Koalition und im Fachausschuss als eines der wichtigsten Vorhaben.